Bleiben, bis es nicht mehr geht
Fährt man vor den Toren Schriesheims durch den Odenwald, so ist die dort herrschende Landflucht anhand von leerstehenden Geschäften und Gebäuden direkt zu beobachten. Die Entwicklung ist jedoch nicht neu: Seit Jahrhunderten strömen junge Menschen vom Land in die Städte. Den Heimatdörfern ging das früher jedoch selten an die Substanz, weil es genug Nachwuchs gab. Das hat sich inzwischen jedoch geändert:
„In keiner einzigen ländlichen Region Deutschlands gleicht die Geburtenzahl den Bevölkerungsschwund mehr aus“ (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung). Zu beobachten ist das auch im Odenwald: Die Kinder der Alteingesessenen folgten in den vergangenen 20 Jahren immer häufiger dem Ruf der Zentren.
In den vom Klimawandel direkt betroffenen Gebieten der Erde gibt es für diese Entwicklung einen dramatischen Anlass: Die Ernten und damit die Lebensgrundlage vieler dort ansässiger Bauern werden durch höhere Temperaturen, stärkere Niederschlagsschwankungen und plötzlich auftretende Naturkatastrophen vernichtet. Besonders Kleinbauern sind auf stabile klimatische Bedingungen angewiesen, da sie über nicht ausreichende Anpassungskapazitäten verfügen. Eine Überblicksstudie (eine Verknüpfung von bereits durchgeführten Klima- und Migrationsstudien), veröffentlicht im Magazin „Nature Climate Change“, beschreibt, in welchen Ländern und unter welchen Bedingungen verändertes Klima am ehesten zu Landflucht führen wird. Die Studienergebnisse ermöglichen den Wissenschaftlern, die zukünftigen Hotspots der Klimamigration abzuschätzen: Lateinamerika, die Karibik, die Sahelzone, Ostafrika, Indien und kleinere Länder im südlichen Asien. Nicht alle Klimaveränderungen haben den gleichen Einfluss auf diese Migration. Die Gesamtmenge des Niederschlags spielt eine kleinere Rolle als dessen Schwankungen, extreme Wetterereignisse verstärken Migrationsbewegungen über Grenzen hinweg. Aber dabei gibt es keinen Automatismus: „Niemand lässt Freunde und Verwandte einzig deshalb zurück, weil es weniger geregnet hat.“ Entscheidungen solcher Tragweite werden aufgrund vielfältiger Faktoren getroffen. Menschen, die aufgrund von Umweltveränderungen fliehen, siedeln sich oft in der näheren Umgebung an. Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass Migration aufgrund von Umweltveränderungen oft nur temporär ist.
Die Vorstellung von afrikanischen Flüchtlingen, die ausnahmslos nach Europa ziehen wollen, ist wesentlich zu simpel. Das Studienergebnis zeigt, dass Umweltänderungen zunächst zu Migration innerhalb des eigenen Landes führen: Betroffene ziehen vom Land in die Städte. Nicht jede neue Dürreperiode führt sofort zu einem gleich großen Anstieg der Fluchtbewegungen. Die Forscher vermuten, dass es sogenannte „soziale Kipppunkte“ gibt: Erst passen sich die Menschen dem Klimawandel an – ehe dann plötzlich der Druck zu groß wird und viele gleichzeitig auswandern.
Für die Schriesheimer Ökostromer
Norbert Clasen